Ost-Goutha

Ost-Goutha ist die Bezeichnung für ein etwa 100 Quadratkilometer großes Gebiet nordöstlich von Damaskus im Süden von Syrien. 13 Kilometer von Damaskus entfernt, handelt es sich um einen ländlich geprägten Vorortgürtel der Hauptstadt mit 60 Städten und Dörfern, die größte Stadt ist Douma. Geologisch ist es eine Oase, es wird dort seit alters her Getreide, Gemüse und Obst  produziert. Historisch ist es eine der ältesten durchgängig von Menschen besiedelten Regionen. In diesem Gebiet lebten zu Beginn dieses Jahres (2018)  etwa 400.000 Menschen, darunter 150.000 Kinder. Vor Beginn des syrischen Bürgerkrieges lebten in dieser Region 2 Millionen Menschen.

2011 im März gibt es landesweite friedliche Proteste gegen das Assad-Regime, deren Anlass die Verhaftung und Folterung von Kindern und Jugendlichen in Da‘ar in Südsyrien ist.

Die Demonstranten fordern die Freilassung der verhafteten Kinder und aller politischen Gefangenen, mehr Freiheitsrechte und soziale Verbesserungen. Ihre wichtigste Losung ist „Das syrische Volk ist eins“. Getragen werden die Proteste von unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung; es beteiligen sich Studenten, Menschenrechtler, Menschen, die mit der sozialen Situation unzufrieden sind. Religiöse Fragen oder Gruppierungen spielen zunächst keine Rolle.

Ost-Ghouta ist von Anfang an eines der Zentren dieser friedlichen Demonstrationen.

Die Herrschaft Assads ist gekennzeichnet durch durch Repression seitens der Polizei und der zahlreichen Geheimdienste. Willkürliche Verhaftungen, Folterungen, Hinrichtungen und das Verschwinden von Menschen sind alltäglich. Dies schafft ein Klima der Angst und Unsicherheit.

Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik, die eine hohe Arbeitslosigkeit (bis zu 50% der unter 30-Jährigen) und steigende Inflation herbeigeführt hat. Missernten durch Wassermangel, verschärft durch eine mehrjährige Dürre, führen zur Landflucht von mehr als 1,5 Millionen Syrern. Die Regierung tut wenig, um die Not dieser Menschen zu lindern. Der Lebensstandard sinkt.

Der Funke des arabischen Frühlings fällt auf einen fruchtbaren Boden.

Die  Regierung lässt Polizei und Geheimdienste auf die unbewaffneten Demonstranten schießen und setzt ab April auch Militär ein. Mehrere 100 Menschen werden getötet. Dies ist der Beginn des syrischen Bürgerkrieges,  der ausländischen Einmischung und der religiösen Dimension des Konflikts. Es bildet sich eine bewaffnete Opposition (Freie Syrische Armee: desertierte Armee angehörige und Zivilisten), die zwar die Regierungstruppen  vertreiben kann, sich aber als unfähig erweist, die Bevölkerung zu versorgen. Finanziert von den Golfstaaten wird dies zunehmend von sunnitischen Hilfsorganisationen übernommen, die sich  bewaffnen und als Milizen fungieren.

Auch In Ost-Ghouta werden die Regierungstruppen vertrieben. 2012 übernehmen drei islamistische Milizen, die sich häufig untereinander bekämpfen, die militärische Macht. Keine dieser Gruppen ist dem IS zuzuordnen und keine steht auf der UN-Liste terroristischer Organisationen, alle sind beteiligt an den Friedensgesprächen in Genf und in Astana (2017). In Astana (den von Russland, Iran und der Türkei geführten Verhandlungen) haben sie der Einrichtung von Deeskalationszonen zugestimmt, die einen Waffenstillstand mit anschließenden lokalen Verhandlungen vorsahen. Gleichwohl feuern sie Granaten und Raketen nach Damaskus ab und sind sie alle auch beteiligt an Kriegsverbrechen und an der Entführung von Menschenrechtsaktivisten.

Jaysh al-Islam (Armee des Islam) ist die mächtigste Miliz, unterstützt von Saudi-Arabien, und beherrscht Douma. Ihr werden hartes Vorgehen gegen Kritiker und die Entführung von MenschenrechtsaktivistInnen vorgeworfen. Sie soll alawitische  Familien als Geiseln in Käfigen zum Schutz vor Bombardierungen benutzt haben. Auch soll sie massiv an der Kriegswirtschaft und am Schmuggel verdienen.

Faylaq al Rahman ist mit der Freien Syrischen Armee verbunden und kontrolliert die Stadt Erbin. Auch sie unterdrückt Kritik aus der Gesellschaft und ist verantwortlich für  Raketen- und Granatenangriffe auf zivile Ziele in Damaskus.

Ahrar al-Sham ist die kleinste Gruppe, die das Gebiet um Harasta kontrolliert, dem die Regierung strategische Bedeutung zumisst.  Auch diese Gruppe ist verantwortlich für Raketenangriffe auf Damaskus.

Es bildete sich eine zivile Übergangsverwaltung, die nicht den Milizen angehörte, sich aber in Opposition zum Assad-Regime befand. Nahost-Experten bewerten die regimekritische Opposition in Ost-Ghouta als diejenige, die nicht von ausländischen Interessen bestimmt wird. Um so mehr wird das Gebiet von der Assad-Regierung gehasst.

Am 21. August 2013 fand ein Giftgasangriff auf Ost-Ghouta statt.  Etwa 1000 Menschen (die Zahlenangaben reichen von ca. 400 bis 1500 Menschen) mussten sterben. Alle Indizien weisen darauf hin, dass der Angriff durch Truppen des Assad-Regimes erfolgte.

Seit 2013 bezeichnet die UN das Gebiet Ost-Ghouta als vom Assad-Regime belagert, das bedeutet, es gab keine Lieferungen von Waren mehr, keine Lebensmittel, keine Medikamente, keine Kleidung. Auch Hilfslieferungen der UN wurden fast immer verhindert. Die Wasserversorgung wurde zumindest zeitweise ebenfalls eingeschränkt. Versorgt wird die Bevölkerung über Schmuggel.

Belagerung als Kriegsstrategie richtet  sich gegen die Zivilbevölkerung, nicht gegen  Kämpfende. Das Verhungernlassen von Menschen gilt als Bruch des humanitären Völkerrechts nach Artikel 8 (2) (b) (xxv) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs und nach Artikel 54 des 1. Zusatzprotokolls der Genfer Konvention.

Die Folgen der Hungerblockade waren für die Bewohner verheerend:

  • Die Preise insbesondere für Lebensmittel stiegen ins Astronomische. Brot kostete in Damaskus 94 SYP, 10 km weiter in Ost-Ghouta 1 500 SYP; das ist eine Preissteigerung von 1 602 Prozent; gleiches gilt für Mehl oder Reis. Fleisch war gar nicht zu bezahlen.
  • 12 Prozent der Kinder gelten als unterernährt. Babynahrung war nicht erhältlich. Im Winter 2017 starben Menschen an Hunger.
  • Viele Menschen starben, weil sie keine Medikamente zum Beispiel gegen Herzkrankheiten, Diabetes, Infektionen erhielten und keine Blutdialysen mehr möglich waren.

Hilfskonvois der UN, des Roten Kreuzes oder des Roten Halbmondes erhielten von Regierungsseite nur selten die Erlaubnis, Hilfsgüter zu bringen.

Während die Zivilisten litten, gab es Gewinner dieser perfiden Kriegsstrategie. Einigen Geschäftsleuten wurde ab und an die Einfuhr von Waren erlaubt. Die riesigen Gewinne wurden auch zur Bestechung von regimetreuen Soldaten und der Milizen verwendet. Gegen Jaysh al-Islam gab es Demonstrationen mit dem Vorwurf, an Schmuggel und der Einfuhr von Gütern zu verdienen. Zynisch ist, dass die hungernde Bevölkerung indirekt die Kriegshandlungen durch die Preissteigerungen mitfinanzierte.

Alltägliche Luftangriffe und Granatenbeschuss  der Assad-Truppe richteten sich vor allem gegen zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser, Bäckereien, Marktplätze, Bildungseinrichtungen.

Die Zahl der Kriegswaisen nahm ständig zu. Viele zivilgesellschaftliche Projekte und die Zivilverwaltung versuchten ein Alltagsleben zu ermöglichen. Freie Schulen wurden betrieben, Austauschzentren für Aktivisten geschaffen, Bibliotheken ermöglichten kulturelles Leben, Frauenzentren waren aktiv, Radiostudios ermöglichten Bürgerjournalismus , Waisenkinder wurden versorgt und betreut.

Die in der Konferenz von Astana vereinbarten „Deeskalationszonen“ hatte keinerlei konkrete  Bedeutung. Im Gegenteil:

Seit Februar 2018 erreichte das Ausmaß an Gewalt durch Luftangriffe, auch mit Streubomben, und Beschießungen ein neues Niveau.  Vom 14 November 2017 bis zum 14. Februar 2018 flogen syrische und russische Kampfjets  und Hubschrauber

  • 11 Angriffe auf Schulen
  • 32 Angriffe auf Märkte
  • 28 Angriffe auf Moscheen
  • 10 Angriffe auf Krankenhäuser.

Am 20. Februar 2018 wurden 23 medizinische Einrichtungen beschädigt oder zerstört, es gab praktisch keine medizinische Versorgung mehr. Ganze Stadtteile und Dörfer wurden systematisch zerstört. Allein von Mitte Februar bis Mitte März wurden mehr als 1300 Zivilisten getötet, mehr als 6000 Zivilisten verletzt und befanden sich innerhalb von Ost-Ghouta 30.000 Menschen auf der Flucht.  Allein in den 10 Tagen vom 18. bis 28. Februar 2018 wurden 616 Menschen getötet: Davon waren 12 Kämpfer der Milizen, 410 Männer, 93 Frauen und 101 Kinder.

Nicht die Kampfstellungen der Milizen standen im Zentrum der Angriffe der Regierung, sondern die Bevölkerung.

Die Menschen hatten keinerlei Schutz und harrten hungernd in selbst gebauten Kellern aus.

Parallel zu den Luftangriffen rückten Regierungstruppen weit nach Ost-Ghouta vor, teilten das Gebiet in drei Sektoren und kesselten die Stadt Douma ein.

Die Welt sah dem Leid der Bevölkerung in Ost-Ghouta hilflos zu. Um ihre Ohnmacht auszudrücken, veröffentlichen internationale Kinderhilfsorganisationen eine leere weiße Seite. Sämtliche Resolutionen des UN-Sicherheitsrates scheiterten am Veto Russlands, ein mehrtägiger Waffenstillstand zur Lieferung von Hilfsgütern wurde auf lächerliche vier bis fünf Stunden täglich reduziert, nur ein einziger Hilfskonvoi erreichte Ost-Ghouta, jedoch ohne medizinische Hilfsmittel.

Am 23. März 2018 schlossen die Milizen Ahrar als-Sham und Failaq al-Rahman Vereinbarungen mit den Regierungstruppen, die ihren Abzug ermöglichten; Russland fungierte als Garantiemacht. Die Kämpfer legten die schweren Waffen nieder und wurden nach Idlib gebracht.

Nachdem Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Jaysh al-Islam und russischen Militärs (ohne Einbeziehung Syriens) über einen Abzug der Miliz gescheitert waren, wurden die Luftangriffe über Douma am 9. April 2018 wieder aufgenommen, auch wurde wieder Chlorgas eingesetzt. Nahe liegt die Vermutung, dass dieser Einsatz wie nachgewiesenermaßen 27 der 33 anderen Giftgasangriffe in diesem Bürgerkrieg von Regierungsseite erfolgte.  Syrien und Russland bestritten dies, betrieben eine verwirrende Medienpolitik und erschwerten der Organisation zum Verbot chemischer Waffen den Zugang in das betroffene Gebiet, die feststellen wollte, ob ein Giftgasangriff erfolgt war. Der Einsatz von Chlorgas ist inzwischen bestätigt. Am 12. April trat eine Waffenstillstandsvereinbarung zwischen  Jaysh al-Islam und Russland in Kraft und die Mitglieder der Miliz ließen sich nach Idlib evakuieren.

Assads Regierung hatte wieder die Kontrolle über Ost-Ghouta.

Warum aber floh die Zivilbevölkerung nicht vor den Bombardierungen?

Die Menschen konnten aufgrund der Belagerung Ost-Ghouta nicht verlassen. Von 1000 Schwerstkranken erlaubte das Assad-Regime nur 29 den Transport in ein damaszener Krankenhaus, und das nur im Austausch gegen die Freilassung von Assad-Soldaten durch Jaysh-al Islam.

Viele Bewohner in Ost-Ghouta fürchteten die Repressionen des Assad-Regimes, insbesondere wenn sie sich an politischen oder humanitären Aktivitäten beteiligt hatten.

Die Regularien der bei den Waffenstillstandsverhandlungen vereinbarten Evakuierung durch die „humanitären Korridore“ erhärteten diese Ängste. Während Frauen und Kinder, die Verwandtschaft in Damaskus haben, zu dieser fahren durften, mussten Männer zwischen 16 und 55 Jahren in „Sicherheitszentren“ bleiben. Junge Männer müssen damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen zu werden und einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führen zu müssen.

Mit den Milizen wurden Evakuierungsvereinbarungen getroffen, die den Bustransport von Zivilisten und Kämpfern nach Idlib ermöglichten. Diese Möglichkeit wurde wohl auch von jungen Männern und Menschenrechtsaktivisten genutzt. Dort wurden sie in Flüchtlingslagern untergebracht oder versuchten auf eigene Faust in die Türkei zu gelangen.

Das Rote Kreuz beteiligte sich nicht an den Evakuierungen, weil es die grundlegenden Bedingungen für eine menschenwürdige Evakuierung nicht gewährleistet sah. Es gab keine Schutz- und keine Rückkehrgarantien, niemand hatte die Gewähr, dass er zurückkehren konnte.

Männer, die blieben, mussten damit rechnen, zum Militär eingezogen zu werden. Jeder konnte ins Visier der Sicherheitskräfte und  der Geheimdienste gelangen, was Verhaftung, Folter oder Tod heißen kann.

Die Zivilisten saßen in der Falle. Sie hatten keine faire Chance. Sie mussten in eine ungewisse Zukunft gehen, ohne Gewissheit zurückzukehren, ohne einen sicheren Ort zu kennen oder sie blieben und waren der Unterdrückung des Assad-Regimes ausgesetzt. Eine Atempause erhoffte sich die Zivilbevölkerung davon, dass zunächst russische Militärpolizei die rückeroberten Gebiete kontrollierte, nicht die Assad-Truppen.

Zynisch ist das Gesetz Nr. 10, das Anfang April von Assads Regierung erlassen wurde. Unter dem Vorwand, Wohnungen wieder aufzubauen, müssen die ehemaligen Besitzer innerhalb von 30 Tagen nachweisen, dass sie Besitzer der Grundstücke oder der zerstörten Gebäude sind. Da derzeit etwa 6,6 Millionen Syrer Inlandsflüchtlinge und 5,6 Millionen ins Ausland Geflüchtete sind, bedeutet dieses Gesetz, die Enteignung von vielen Menschen. Nach Bombardierung und Vertreibung folgt die Enteignung.

Ein Ende des Leidens ist nicht abzusehen. Und die Welt, unsere Politiker, unsere Institutionen und wir schauen zu.